Box ad Industriegeschichte
Was aus einem Faden so alles entstehen kann...
Mülhausens Name kommt tatsächlich von Mühlen, und auch das Wappen zeigt
ein Mühlrad. An den Flüssen Ill und Thur und deren Nebenarme in Mülhausens
Umgebung waren im 18. Jahrhundert zeitweise 19 Mühlen angesiedelt. Mühlen
gelten als frühe Industrie, die in dieser Form bereits im Mittelalter entstand.
Die von Wasserkraft angetriebenen Mühlen dienten nicht nur zum Mahlen; sie
wurden zum Sägen, Hämmern, Stampfen oder Pumpen gebaut. In England
heissen noch heute Textilfabriken «Mills», also «Mühlen», womit im Wort die
frühere Energiequelle fortlebt.
Nach der napoleonischen Ära nach 1815 explodierte Mülhausen förmlich: Innerhalb
wenigen Jahren hatten die teils aus hugenottischstämmigen Familien
hervorgegangenen Industriegründer quasi aus dem Stand ein Industriepotential
aufgebaut, das aus dem rasanten Aufbaubedarf entstand. Der Bauboom
erforderte rasch verfügbares Baumaterial. Das lehmreiche Sundgau - dem
Hinterland Mülhausens - verfügte über den idealen Baustoff quasi vor der
Haustüre. So kam es, dass vornehmlich Backsteine verwendet wurden und
dadurch der «explodierenden» Industriestadt ihr Gesicht verliehen. Ziegeleien
entstanden im Gleichschitt mit der Errichtung neuer Textilfabriken. Ein
Tessiner namens Gilardoni erfand den mechanischen Ziegel; ohne ihn wären die
Sheddachkonstruktionen der Spinnereihallen wohl nicht möglich gewesen.
Gilardoni produzierte bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Die Mechanisierung der Textilindustrie erzwang den Aufbau von
Maschinenfabriken - noch heute fortbestehend in der Waffenfabrik Manurhin.
Ingenieure mussten aus ganz Europa hergeholt werden - zumal aus dem Zürcher
Oberland, St. Gallen und Mailand, wo sich ebenfalls Textilindustrie
niedergelassen hatte. Es ist daher kein Zufall, dass Niklaus Riggenbach, der
Erfinder der Zahnstange und Entwickler des Bergbahntourismus in der Schweiz,
in Guebwiller bei Mülhausen geboren wurde; sein (Schweizer) Vater war Textil-Ingenieur im Elsass.
Anfang 19. Jahrhundert wurden die Mühlräder durch Wasser- oder
Dampfturbinen abgelöst. Die meisten Turbinen stammten aus Winterthur,
dessen protestantische Industrielle über das zwinglianische Zürich mit den
hugenottischen Industriegründern Mülhausens ideologische Werte verbanden.
Der Güterverkehr aus den wasserreichen Gegenden des Mülhauser Hinterlandes
- wo notabene die Arbeitskräfte billig waren - erzwang den Bau von
Eisenbahnlinien, wovon die Strecke Strassburg-Mülhausen zu den Vetter-Industriellen in Basel die erste internationale Eisenbahnlinie der Welt wurde. Der
ehemals in Mülhausen gegründete französische Eisenbahnbau lebt auch heute
noch fort mit der TGV-Konstrukteurin Alstholm-Atlantique, heute in Belfort.
Um die Stoff-Farben nahe den Textilproduktionsstätten zu produzieren, kam
zwar die Chemie im Thannertal auf, doch schliesslich waren es patentrechtliche
Gründe, die die Mülhauser Textilbarone zwangen, nach Basel auszuweichen. Die
Unzahl von Stoffmustern, die in alle Welt verschickt wurden, erforderten
bedruckte Etiketten. So nebenbei entstand daher in Mülhausen eine
Druckindustrie, die einen weltweiten Höhepunkt in der Erfindung der
Heliographie fand. Die Druckindustrie überlebte jedoch nicht und ging in den
siebziger Jahren im verflossenen Jahrhundert nach schweren Sozialkämpfen
unter.
Jürg-Peter Lienhard
Diese Box gehört zum Hauptartikel: Der Stolz der
Industriegründer waren ihre Sammlungen |