Er ist eine der beliebtesten Basler Fasnachtsfiguren,
wenn nicht gar die beliebteste überhaupt: der «Waggis».
Nur vermeintlich ist er «der Elsässer»,
und schon gar nicht der Neudörfler «Gmiesbuur». Im
Elsass, wo er aber gleichwohl als Kind der industriellen Revolution
«geboren» worden war, ist sein Ruf noch heute
zwielichtig. «Wogges», «Wackes» ist
darum bei unseren Nachbarn ein wenig schmeichelhaftes Personenattribut.
Wer aber war, oder ist, der «echte Waggis», und warum
sind viele Basler Fasnachtsteilnehmer unter den grotesk verzerrten
Trachtenkarikaturen auch übers Jahr eben auch «echte
Waggis»? Ein Blick zurück auf die jüngste
Fasnachts- und Regio-Geschichte mit Jürg-Peter Lienhard
Ein Bengel im Umfang fast eines Baumstammes, «veyeletti»
Hosen aus teuerstem Samt, eine seidenglänzende Blouse,
grell «gäggeligääl», eine Perücke
aus veritablen «Schyssybirschtli» und Holzschuhe -
selbstverständlich «holländische»: Keine der
traditionellen Basler Fasnachtsfiguren hat sich in den kaum
15 bis höchstens 20 letzten Jahren derart vom Vorbild
entfernt, wie das «Waggis»-Kostüm. Dem «Dummbeeter»,
dem «Blätzlibajass» und selbst der «alte
Dante», stets auch zur Verhöhnung alter und neuer
Suffragetten mit allerlei derben Verzerrungen ausgestattet,
beliessen die neuen Fasnachtsdesigner bislang ihre «Identität».
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Der Ur-Sundgauer Ofenbauer
Pierre Spenlehauer in originaler Waggistracht und mit «Munifiesel»
auf einem seiner wunderschönen Kachelöfen.
Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2003
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In den massiven Übertreibungen der einstmals bloss als
Karikatur gedachten Kleidung des Waggis, einer vagabundischen
Melange der Arbeitstracht der elsässischen Bauern, konkurrenzieren
sich Larvenmacher ebenso wie Kostümentwerfer und «Goschdym-Comités»
der Cliquen: Je schriller und bunter die Textilien, desto
mächtiger geraten die veritablen «Kopfbauten»
- denn die Dimensionen der Larven haben sie längst gesprengt.
Aus der einstmaligen Trachtenkarikatur ist eine Kostümgroteske
geworden, die eine von Protz, Pomp und Formenderbheit diktierte
grafische Eigendynamik entwickelt.
Frühes «Outfit» noch nicht grotesk verzerrt
Die älteste Abbildung eines «Waggis» an der
Fasnacht in Basel belegt denn ein anderes «Outfit»,
wenngleich der abgebildete «Waggis» einen dicken
Bengel mit sich schleppt - wie seine modernen Versionen auch. Auf
dem Bild aus dem Stammbuch «Gärtli» der verblichenen
Gymnasiastenverbindung «Paedagogia» fällt
zudem auf, dass der «Waggis» keine Holzschuhe
trägt, sondern fast eher elegante Halbschuhe. Was an
sich schon ungewöhnlich für die Zeit ist, denn es waren damals
eher halbhohe Schnürschuhe, wenn nicht gar Holzschuhe
üblich. Die ungeteerten, oder lediglich gepflasterten
Gassen waren ja voller Pfützen und Unrat. Darum brauchte
nicht erstaunen, dass der «historische» Fasnachts-«Waggis»
eine weibliche Kostümierte auf dem Buckel trägt. Wie
sich der Nachfahre «echter Waggisse», Pierre Spenlehauer
aus Biederthal, zu entsinnen vermag, schleppten zwar die
«originalen Waggisse» ihre Weiblein mitunter kurzerhand
auf dem Buckel ab - aber wohl kaum aus gentlemanliker Fürsorge
um deren «Plunder», wie im Elsass noch heute
jede Art Kleider heisst...
Immer noch auf dem historischen Bild bemerkt man beim Weiblein
auf dem «Waggisbuckel» eine hocherhobene Gerte
oder Rute, die sie in der linken Hand hält, wie ein
Reiter, der sein Pferd anspornt. Allem Anschein nach handelt
es sich bei der Rute um den sogenannten «Munifiesel», der
eigentlich - anstelle des Bengels - in die Hand des «Waggis»
gehört. Ausführliches zum «Munifiesel»
etwas weiter unten.
Statt einer enormen Perücke trägt der «Waggis»
lediglich eine weisse Zipfelmütze, und nur die Nase in
der wenig aufregenden Larve deutet die Karikatur ihres lebenden
Vorbildes an.
1874 das Geburtsjahr des «Fasnachts-Waggis»
Interessant ist die Jahreszahl der Veröffentlichung der
allerersten Abbildung eines «Waggis»-Fasnächtlers
in Basel, nämlich 1874 - also vor knapp 120 Jahren.
Das illustriert sehr schön das historisch gesicherte
Faktum, dass der «Fasnachts-Waggis» seinen leibhaftigen Prototyp
noch nicht lange zum Vorbild haben kann. Tatsächlich
ist denn der «echte Waggis» ein «Kind»
der industriellen Revolution, die am Oberrhein im Elsass begann
und erst fast hundert Jahre später, mit dem Ersten Weltkrieg,
in Basel die Vorherrschaft Mülhausens ablöste!
Soziale Randfigur
Der «echte Waggis» ist eine soziale Randfigur,
ein «Produkt» der industriellen Revolution und
der rigiden Ausbeutungs-Ideologie des Frühkapitalismus,
wie er gleich nach Manchester auf dem Kontinent in Mülhausen
Fuss fasste. Die fast explosionsartig sich ausdehnende Textilindustrie
und deren «Folgeindustrien» in Mülhausen nach Ende der
Revolutionskriege um 1820, erzeugte einen enormen Bedarf an
Menschenmaterial, sprich Arbeitskräften. Der «Waggis»,
so würde man heute sagen, sei der Mensch, der durch
die «Maschen des sozialen Netzes» gefallen ist.
Nur gab es im Frühkapitalismus keine sozialen Maschen,
weil ein soziales Netz gar nicht vorhanden war, respektive erst durch
Arbeitskämpfe erstritten werden musste.
Der «Waggis» jedoch war gleichwohl nur im entferntesten
Sinne «Opfer». Er war der Vagabund, der Strolch,
der Tagedieb - Schnapsbeule, Raufbold und Grossmaul in einem.
Unangepasst und verwahrlost und immer mit einem Bein im «Käfig».
Gestrandet als Folge der Verlockungen des industriellen Materialismus,
brauchte er sich nur so weit mit Arbeit zu beschäftigen,
wie ihn der blosse Hunger dazu zwang. Ein paar Centimes aus
der Fabrik machten ihn reicher als viele Bauern, die zwar
hart arbeitende Selbstversorger waren, aber kaum Gelegenheit
hatten, rares Bares einzunehmen.
Eigenheit des Elsass - aber weder Bauer noch Arbeiter
Der «Waggis» war kein Bauer, denn er besass weder
Grund noch Haus, und er war auch kein Arbeiter, denn er liess
sich nicht in den Arbeitsprozess einspannen. Vielmehr war
er Gelegenheitsarbeiter, Taglöhner zumal, und ohne festen
Wohnsitz. Die Bauern wie die Arbeiter begegneten ihm mit
ungeteilter Argwohn.
Immer schon produzierte die Gesellschaft solche Randfiguren
und Randgruppen, die dem sozialen oder wirtschaftlichen Wandel
nicht zu folgen mochten. So diktierte auch im Elsass die
rasch nach der französischen Revolution einsetzende
Industrialisierung den Takt des sozialen Fortschritts und
der grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen.
Die Figur des «Waggis» blieb jedoch eine Eigenheit
des Elsass und ist mit seiner wechselhaften Geschichte untrennbar
verbunden. «Geburtswiege» ist zweifelsohne Mülhausen,
wo man noch heute vom «Melhüser Waggis» redet.
Ein Elsässer mit Grund und Habe wird es noch heute weit
von sich weisen, wenn man ihn auch nur «freundschaftlich»
als «Waggis» bezeichnet. Im Gegenteil: «Waggis»
ist eine Beleidigung für einen arbeitsamen und familienbewussten
Elsässer. Zu jung ist die Vergangenheit des Elsass,
dessen Bewohner im Allgemeinen ein weit ausgeprägteres
Geschichtsbewusstsein haben, als manche seiner Nachbarn es von sich
einbilden.
Zum geschichtlichen Hintergrund des Waggis
Das Elsass war bis zur französischen Revolution unbehelligtes
royalistisches Protektorat, «ma province gérmanique»,
wie der «Sonnenkönig» Ludwig XIV. bei der
Einnahme des ausgebrannten und leergemordeten Elsass 1648
nach dem Dreissigjährigen Krieg proklamierte. Nur Mülhausen
war die Ausnahme; es stand als «zugewandter Ort» unter dem
Schutz der alten Eidgenossenschaft.
Hinter seinen Mauern wohnten viele Familien, die im 16. Jahrhundert
als französische Protestanten nach der Bartholomäusnacht
vor der drohenden Verfolgung über das calvinistische
Genf in die Schweiz flohen. Im Laufe der Zeit zog diese Hugenotten
genannte französische Intelligentsia den
Jura hinauf, wo - nebenbei gesagt - die Ansiedlung der Uhrenindustrie
auf ihren innovativen Einfluss zurückzuführen ist.
Auch in der protestantischen Stadt Basel entstand eine Kolonie,
die sich vorwiegend in der «Dalbe» niederliess.
Mit der Zeit vermischte sich ihr Französisch mit dem
einheimischen Alemannisch, aber der sonderbare Klang ihres
Idioms grenzte sie sprachlich und sozial von den anderen Bewohnern
der Rheinstadt ab.
Fasnachtssprache ist die Spottversion des «Baseldytsch»
Voilà die Erklärung für die Entstehung des
«Dalbaneesisch», das nie die Sprache der gesamten
Stadtbevölkerung war, und stets Stoff für den Spott
unterer Schichten gegenüber den «Daigaffen», wie man
die vornehmen Angehörigen der Kolonialhandels- und Seidenfabrikanten
nannte, hergab. So sind auch die Schnitzelbank-Zeilen, ja
die ganze Basler Fasnachtssprache zu verstehen: Sie ist die
«Spottversion» des vornehmen «Baseldytsch».
Für die meisten aktiven Fasnächtler ist es eine
Kunstsprache, die sie nicht im Alltag sprechen, für nicht wenige gar
eine richtige «Fremdsprache». Und die wenigsten
wissen um ihre Entstehung...
Um den Bogen zurückzuspannen nach Mülhausen - der
«Ausflug» über Genf sollte ja den geneigteren
unter den Lesern den Zusammenhang vermitteln -, konnten die
dortigen Hugenottenfamilien ihre ganze Innovationskraft erst
entfalten, als Mülhausen als Folge der französischen Revolution
in das schon lange französisch gewesene Elsass einverleibt
wurde.
Mülhausen «explodierte» bevor Basel die
Mauern schleifte
Das ehedem katholische und arme Hinterland stand plötzlich
zur Verfügung. Die Stadt riss ihre Mauern nieder und
explodierte förmlich in einer beispiellosen Industrierevolution:
Von 1820 bis 1870, also in nur 50 Jahren, entstanden rund
120 Fabriken - zumeist Textilfabriken nach dem Vorbild Manchesters.
Deren Prosperität machte weitere Zulieferbetriebe nötig:
Ziegelfabriken, die erste französische Lokomotivfabrik,
Textilmaschinenfabriken, Mechanik und für die Musterbeschriftung
die grafische Industrie sowie die Chemie.
Derweil blieb Basel buchstäblich ein Dorf mit Stadtmauer,
und es dauerte fast bis zur Jahrhundertwende, bis hier ein
ähnlicher Entwicklungsschub stattfand. Dieser wurde
erst noch durch Mülhausen ausgelöst, das aus patentrechtlichen
Gründen die in England erfundenen Anylin-Textilfarbstoffe
nicht herstellen durfte. Die Mülhauser Textilbarone
liessen darauf kurzerhand die neuen chemischen Farben von
ihren Vettern in Basel herstellen: die Basler Chemie war gegründet.
Basel prosperierte erst nach dem Ersten Weltkrieg
Mülhausens Wirtschaft bekam voll die zerstörende
Zäsur des Ersten Weltkrieges zu spüren und Basel
lief ihm von da ab den Rang ab. Nochmals erlitt Mülhausen
einen gewaltigen wirtschaftlichen Rückschlag als Folge
des Zweiten Weltkrieges, von dem es sich erst in den siebziger Jahren
zu erholen vermochte. Aber gleichwohl hat Mülhausen
seine einstmalige überragende industrielle Vormachtstellung
am Oberrhein fast ganz verloren und unbestritten an Basel
abgetreten.
Die Industrie-Prosperität Mülhausens, die bis zum
Ersten Weltkrieg dauerte, führte zu einer riesigen Nachfrage
an Arbeitskräften, die zumeist aus der ländlichen
Agglomeration rekrutiert wurden. Die Vorstädte entstanden
und mit ihnen das Grund- und mittellose Proletariat - die
«Wiege» des Waggis.
Spanische Renaissance
Viele Basler Fasnachtskostüme um die Jahrhundertwende
sind auf die Arbeits- und Sonntagstrachten der umliegenden
Landschaft zurückzuführen. Liebend gerne wurden
damit die Nachbarn karikiert oder gar verspottet. Zumal die
Elsässerinnen mit ihren üppig ausstaffierten Landtrachten - da
katholisch - und die Bauern mit ihren Holzschuhen gegenüber
der puritanisch bescheidenen Kleidungen der protestantischen
Basler auffielen und im Stadtbild allgegenwärtig waren.
Und natürlich eignete sich die «Waggis»-Kluft
wie keine andere, um die Elsässer zu necken, war für
sie doch ihr «Waggis» ein Vagabund. Denn der
Waggis trug die im Elsass übliche blaue Arbeitstrachtenbluse, die er
nicht selten als Lumpenstück bei einer seiner Gelegenheitsarbeiten
auf einem Bauernhof zum Austragen geschenkt bekam.
Äusserlich mochte sich die Arbeitskleidung des Bauern
und des «Waggis» sehr wohl ähneln, aber bei
näherem Hinschauen liessen sich wohl deutliche Qualitätsunterschiede
feststellen. Übrigens gehen alle Trachten auf die spanische
Renaissance zurück und sind im Prinzip «stehengebliebene
Mode», weil das teure Silbergeschmeide, die goldgewirkten
Hauben und die aufwendigen Stickereien von Generation zu
Generation fast unverändert vererbt wurden.
Arbeitstracht der Patrons wurde vom Waggis ausgetragen
Die Arbeitstracht des elsässischen Bauern in unserer
Gegend - im Nordelsass wiederum stark abweichen - bestand
aus der hellen oder schwarzen Zipfelmütze, aus einer
über der Hose getragenen blauen Leinenbluse mit gestickten
Kragenbordüren und schwarzen Leinenhosen. Unter der Bluse
schaute ein «Vatermörder» geheissener Kragen aus der
Biedermeierzeit hervor, der mit einer Mülhauser Textilspezialität
zugebunden war: Ein buntes Halstuch, teils mit exzellenten
zeitgenössischen Mode-Mustern bedruckt. An den Füssen
trug er Holzschuhe, die in handgestrickten Socken steckten
und das Ringelmuster aufwiesen, welches gerade von der Farbe
der Wolle zustandekam.
Im Gegensatz dazu trug der «Waggis» die ausgetragene
Arbeitsbluse eines vergangenen Arbeitgebers auf dem Hof.
Das Halstuch um den Vatermörder, war sowieso nicht sauber,
und die Hosen waren aus derbem, ungebleichtem Drillich -
mal zu weit, mal zu kurz - so dass die geringelten Strickmuster
der Socken deutlich zu sehen waren. Und auch die Holzschuhe
fehlten nicht, zumeist im Sundgau bis nach dem Zweiten Weltkrieg die
übliche Fussbekleidung.
Ein fürchterliches Utensil: der «Munifiesel»
Ein wesentliches Utensil aber zeichnete den «Waggis»
besonders aus, obwohl er es meist hinten in der Hose versteckt
hielt, um es beim geringsten Anlass hervorzischen zu lassen:
Der «Munifiesel», oder Stierennerv geheissene
Harnleiterstrang des Ochsen. Er ist eine mörderische
Waffe, wenn man ihn nach dem Schlachten in frischem Zustand
der Länge nach spaltet, mit einem Stein beschwert aufhängt, mitsamt
dem Gewicht dreht, bis er eine gewundene Form annimmt. Nach
dem Trocknen ist er ein elastischer, rutenförmiger Schlagstock,
wovon ein einziger Hieb genügt, um einen Raufkumpan mehr
als kampfunfähig zu machen. Manche «Waggisse»
haben zur Erhöhung der Wirkung gar noch einen Fünfmillimeter-Draht
miteingewunden, wodurch etwelche Verletzungen noch gefährlicher
als eine Revolverwunde werden konnten...
Beim «Waggis»-Fasnachtskostüm kam noch die
Larve dazu, die ursprünglich der italienischen Commedie
dell'arte entlehnt wurde, also ohne groteske Züge. Erst
nach dem Zweiten Weltkrieg nahm sie «charakteristische»
Formen bis zur heutigen Verzerrung an.
Zur Etymologie des Wortes «Waggis»
In der deutschen Zeit des Elsass brachte im Jahr 1877 die
literarisch-satirische Zeitschrift «Gartenlaube»
eine Erklärung des elsässischen Schimpfwortes «Waggis»,
die zu verschiedenen Deutungen Anlass gegeben hat. Die Stelle,
welche F.A. Stocker, Redaktor der damaligen «Basler
Nachrichten» in seinem heimatkundlichen Jahrbuch «Vom
Jura zum Schwarzwald» wiedergab, lautet wörtlich:
«Das Elsass ist, wie kein zweites Land, äusserst
reich an Provinzialismen, welche für uns Norddeutsche
schwer zu verstehen und noch schwerer zu erklären sind.
Hievon nur ein Beispiel. Will der Elsässer einen Gegner
zum Streit veranlassen, so ruft er ihm zu: „Wax!“ (bisweilen
auch„Wox!“). Es scheint dies eine Art Herausforderung zu
sein. Lange hat man keine Erklärung dieses fremdklingenden Wortes
gefunden; es ist aber jetzt festgestellt, dass es eine Zusammenziehung
der beiden Worte: Wage es (mich anzugreifen, mir nahe zu
treten usw.) ist. Es ist somit das Wort„Wax“ nicht zu den
Substantiven, wie sehr oft behauptet wird, sondern zu den
Ausrufs- (Empfindungs-)Wörtern oder Interjektionen zu
rechnen.»
Darauf antwortete ein Einsender in den «Basler Nachrichten»:
«Man weiss wirklich nicht, was bei diesem Sprachkundigen
mehr zu bewundern ist: die Erfindungsgabe oder die Unverfrorenheit,
mit der er seine Hirngespinste dem Publikum auftischt. Da
aber sehr viele Elsässer selber nicht wissen, woher der„Waggis“
stammt, folgt hier die„richtige“ Erklärung: Die Bewohner
des „Wasgaues“ oder Vogesen wurden nach dem Gebirge Wasgauer
genannt. Aus Wasgauer entstand unser jetziges Woggis oder Waggis. Da
aber jenes Kulturvolk nicht sonderlich von der Kultur beleckt
wurde, überhaupt als Holzfäller und Kohlenbrenner
sich etwas rauhe Sitten angeeignet hatten, so wurde „Waggis“
identisch mit einem rohen, ungebildeten Menschen. Ein anderer
Beurtheiler des Wortes „Waggis“ sagt, dass das Wort von „Vagus“
herstamme, einer vormals gerichtlichen Bezeichnung, die Landstreicher,
Strolch bedeute, wie auch der im Elsass ebenfalls sehr beliebte
synonyme Ausdruck ähnlichen Ursprungs „Wackebum“ (von
Vagabundus, Vagabond).»
Vagabund ist Wortstammhalter
Mit dieser Ansicht stimmte ein weiterer Leser der «Basler
Nachrichten», ein Elsässer mit überein, indem
er schrieb: «Vagabund ist der Stammvater von „Waggis“.
Im Nieder-Elsass (Strassburg), wo man, wie überall im
Zorne, leicht einige Konsonanten verschluckt und gerne abkürzt (damit
der andere desto schneller weiss, was man von ihm denkt),
wurde daraus „Waggebum“; mit der Zeit wurden zornige Leute
noch praktischer und betitelten denjenigen, der seinen Zorn
und seine Verachtung empfinden sollte, einfach mit „Wagges“
- im Oberelsass (Mülhausen) „Waggis“.
Das Wort „Wagges“ ist erst in den Dreissiger Jahren (im 19.
Jahrhundert, der Autor) entstanden, da es weder im „Pfingstmontag“,
noch im Luststück „Daniel“, noch im elsässischen
„Neujahrsbüchlein vom Vetter Daniel“ vorkommt. Im Druck
erscheint es zuerst am Ende der Dreissiger Jahre und zwar
in einem humoristischen französischen Sittenbilde: „Physionomie du
Wagges“, in Dambachs „Wochenblatt“. Die Endsilbe „es“ gibt
dem Worte eine verächtliche oder tadelnde Bedeutung,
die sich auch in anderen Ausdrücken zeigt, wie in: „Sozies“
oder „Zozies“, „Haschges“, „Staches“, „Bingges“ usw.»
Voilà: jetzt wissen wirs. Der Basler Fasnächtler
dürfte indes unschwer erkennen, welche der beiden Versionen
die zutreffendere ist. Auf jeden Fall ist es nur zu verständlich,
dass das weiter entfernte Norddeutschland einen eher erschwerten
Zugang zu den Quellen unserer Region findet.
Von Jürg-Peter Lienhard
Besuchen Sie die Fotoseite: Mehr…
PS: Wie empfindlich Elsässer reagieren können, wenn man sie «Waggis»
betitelt, lesen Sie auf der Seite der Strassburger Robert-Schuman-Universität:
Mehr…
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