Nachruf
Erschütternder Film über Aglaja
Veteranyi
Aus dem Abgrund, in den Abgrund
Posthume Begegnung - ein Film von
Ludwig Metzger am Sonntag, 12. Oktober 2003, 21:15 Uhr auf 3-Sat
Von Jürg-Peter Lienhard
«Warum…?» - darüber kann
auch der Film von Ludwig Metzger keine Auskunft geben: Aglaja Veteranyi,
eine
wundervolle Schriftstellerin und Schauspielerin, hat sich am
3. Februar 2002 in den Zürichsee gestürzt und ist ertrunken.
Ihr Tod ist schmerzhaft, wenn man sie auch nur flüchtig gekannt
hat, wenn man ihr hochgelobtes Buch «Warum das Kind in der Polenta
kocht» gelesen und ihre Botschaft verstanden hat.
Wie kommt es, dass man - allein aufgrund eines Zeitungsartikels
- die Räder unter den Hosenboden nimmt, und zu einer Lesung in
einem vom Stadtzentrum weit entfernten Industriequartier Zürichs
fährt, um dort einer bislang unbekannten Schriftstellerin zuzuhören?
Es scheint, dass die Welt der Aglaja Veteranyi derart stark
aus den Zeilen tritt, dass sie selbst durch «Filter» von
Literatur-Journalisten hindurchzudringen vermag. Auch ein Kompliment
an diese Literatur-Beschreiber aus dem Veteranyi-Umfeld «der
ersten Stunde»: Noch bevor die Abschreiber und Papageien auf den
Plan treten konnten, waren die kompetentesten Literatur-Gazetten bedient,
und mit einem ganzseitigen Beitrag in der «Sonntagszeitung»
schaffte es die Kunde vom «Wunder aus Rumänien» gar in
die Publikumspresse. Die Leser waren berührt und gefesselt gleichsam.
Aus dem Ödland auf die Insel
Ich behaupte mal, es sei der Abgrund, in den hineinzuschauen
uns im Erstlingswerk von Aglaja Veteranyi so verstörend faszinierte:
Wir, hier in der «geordneten, behüteten» Schweiz, wo
man nicht mal verhungern kann, wenn man kein Geld hat, erleben in
Veteranyis Buch, dass wir eben hier auf einer Insel leben. Nicht
viel weiter weg von hier, gibt es trauriges Ödland, wo Frost und
Düsternis herrschen und ansteckend auf die Seelen wirken.
Wie kann man mit knappen Erzählungen aus dem lustigen Zirkusleben
diese Ödnis so präzise beschreiben? Wahrscheinlich nur aus
den Augen eines Kindes, und so hat Aglaja Veteranyi denn auch diese Sichtweise
gewählt, um den Abgrund überhaupt beschreiben zu können:
Wie die Leute ihre eigene Haut zu Markte tragen müssen, weil das
Dasein kein vernünftiges Menschleben erlaubt. Und wie dies so selbstverständlich
ist, dass die Grausamkeit nicht einmal mehr von denen als solche wahrgenommen
wird, deren Opfer sie sind.
Belanglosigkeit als versteckte Grausamkeit
Ihr Erstlingswerk erinnert - zwar weder im Stil noch in der
Erzählweise - an Susanna Tamaras «Love» (Diogenes
Verlag Zürich), das ebenso unheimlich «belanglos» von
der Absenz der Liebe handelt. Denn auch das Buch von Veteranyi ist eine
Beschreibung der Hartherzigkeit, die man nicht als solche
wahrnimmt, weil alles ja so «normal» scheint: Warum
muss sich die Mutter an den Haaren unter die Zirkuskuppel heraufziehen
lassen? Warum ist die Erzählung von einem Kind, das in einer Polenta
kocht und sich daher grausame Verbrennungen zufügen lassen muss,
die geeignete Ablenkung für Klein-Aglaja, die stets Todesangst während
der Zirkusnummer ihrer Mutter durchlebt? Eben!
Der Schock über den Selbstmord von Aglaja Veteranyi, von
dem ich erst dieser Tage in Zusammenhang mit der Filmpräsentation
von Ludwig Metzger erfuhr, sitzt mir noch tief. Kein Suizid ist «selbstgewählt»,
«freiwillig» und schon gar nicht «bewusst» geplant.
Er hätte nicht sein müssen - aber ob man ihn hätte verhindern
können?
Innige Teilnahme des Publikums
Aglaja Veteranyi war umgeben von jungen, ernsthaften Künstlern
und bestimmt aufmerksamen Freunden. An ihrer sehr gut besuchten Lesung
vor zirka vier Jahren in einem zu Lofts umgebauten Industriekomplex
wurde ihre Präsentation umrahmt
von Musik, Gesang und Darstellung. Das sonst so unberührbare
Zürcher Publikum freute sich an ihrer schönen, akzentfreien
Stimme, liess sich aber nicht davon über den Inhalt ihres Vortrages
täuschen und nahm innig teil.
Noch müsste mir jemand beweisen, wie man sich selbst an
den Haaren aus einem Abgrund herausziehen kann - Aglaja Veteranyi hat
es versucht, aber ohne fremde Hilfe gelingt das dauerhaft eben nicht. Heute
weiss die Wissenschaft, dass es chemisch-neurologische, körperliche
Vorgänge sind, die unaushaltbare Gefühle wie solche, die zum Suizid
geradezu zwingen, erzeugen.
«Melancholie» - eine halbschlaue Diagnose
Aufmunterungsversuche gutmeinender Freunde sind dagegen geradezu
kontraproduktiv. Depressionen, halbschlau auch als «Melancholie»
verherrlicht, gehören in die Obhut von Fachleuten und können
heute gottseidank mithilfe erprobter Medikamente und psychotherapeutischer
Begleitung behandelt werden. Ein Selbstmord ist daher immer auch ein
Versagen des «beratenden» Persönlichkeitsumfeldes des Betroffenen.
Aglaja Veteranyi ist 1962 in Bukarest in eine Zirkusartisten-Familie
geboren worden. Als «Kind der Landstrasse» kam sie in die
Schweiz, wo sie zunächst zusammen mit ihrer Schwester in einem übel
geführten Kinderheim versorgt wurde. Die Halbwüchsige lernte
sehr schnell die deutsche und schweizerdeutsche Sprache und debütierte
schon 1982 als freischaffende Schauspielerin und Autorin. 1993 nahm sie
an der Gründung der literarischen Experimentier-Gruppe «Die
Wortpumpe» mit René Oberholzer und 1996 an der Theatergruppe
«Die Engelmaschine» mit Jens Nielsen teil. 1998 erhielt sie das
Förder-Stipendium im literarischen Colloquium Berlin.
Altes 8-mm-Filmmaterial gefunden
Ludwig Metzger, Filmemacher beim WDR in Köln, weiss, dass
sein Filmporträt keine Antwort geben kann auf die Frage, warum eine
so erfolgreiche junge Schriftstellerin sterben wollte. Zusammen mit gefundenem
Film- und Tonmaterial, z.B. alte Super-8-Filme ihres Vaters und ein von
Aglaja besprochenes Tonband, schafft Metzger ein Abbild, das der Erscheinung
ihr Geheimnis lässt.
Jürg-Peter Lienhard
Sonntag, 12. Oktober 2003, 21.15 Uhr auf 3-Sat.
Filmdauer: 74 Min.
Aglaja Veteranyi: «Warum das Kind
in der Polenta kocht», Roman. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart
1999, 190 Seiten, gebunden. EUR 14.90, CHF 26.80. Als Taschenbuch: dtv
Taschenbücher Bd.12908. 2001. 188 Seiten, kartoniert. EUR 9.00,
CHF 16.00
Aglaja Veteranyi: «Das Regal der
letzten Atemzüge». Roman. Nachwort von Werner Löcher-Lawrence
und Jens Nielsen. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 2002, 131 Seiten,
gebunden. EUR 16.90, CHF 30.20
Besuchen Sie auch die schönste Seite über
Aglaja Veteranyi, die Felix
Epper nach seiner Begegnung mit ihr im Frühjahr 2000 in der «Kronenhalle»
Zürich verfasste:
Und hier finden Sie weitere
Informationen zu den Büchern und Angaben zur Bestellung.
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Nach dem Film gedacht: Warum bringen sich immer nur wertvolle
Menschen und keine Fussballfans um? Von letzeteren gibt es ja genug.
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