Jürg-Peter Lienhard: Warum hat Albert Schweitzer nie eine
Schreibmaschine gebraucht - die hat es ja gegeben?
Pfr. Johann Zürcher: Dazu habe ich einmal eine Notiz von ihm selber
gelesen: Die Schreibmaschine mochte er nicht leiden. Wenn er schrieb,
wollte er nicht durch das Klappern der Maschine in der Konzentration
gestört werden. Es gab damals ja noch nicht so moderne Schreibmaschinen,
die kaum Lärm machen. Eine moderne Schreibmaschine hätte er heute wohl
akzeptiert.
Jürg-Peter Lienhard: Der Computer wäre doch für ihn heute ideal gewesen,
denn er hat seine Manuskripte ja vielfach mehrmals überarbeitet. Es gibt
ja auch mehrere Fassungen von gewissen Aufsätzen.
Pfr. Johann Zürcher: Das ist zutreffend. Von vielen Werken gibt es
verschiedene Fassungen. Dafür gibt es verschiedene Gründe zu erwähnen.
Erstens hat er in Europa vielleicht eine Notiz geschrieben. In Lambarene
fuhr er dann weiter, hat aber das andere betreffende Manuskript oder die
betreffenden Unterlagen nicht dabei. Dann fängt er einfach nochmals von
vorne an und verfasst neu. Häufig sind es rein arbeitstechnische Gründe,
weshalb er stets wieder neu ansetzte.
Bei der Kulturphilosophie III kommt noch ein spezieller Grund dazu,
warum er so viele Fassungen gemacht hat: Er versuchte darin ein Problem
zu lösen, das ihm nie richtig gelang. So hat er dann immer wieder von
vorne angefangen.
Jürg-Peter Lienhard: Stichwort Lambarene. Das ist ja nicht ein
Idealaufenthalt gewesen für die wertvollen Manuskripte. Man hat sie ja
dann nach Europa zurückgeholt, aber gibt es nicht noch Spuren von
Lambarene auf den Papieren?
Pfr. Johann Zürcher: Ich bin eigentlich erstaunt, dass alle Manuskripte
von dort erhalten geblieben sind. Mit Ausnahme etwa von jenen
Manuskripten, die von Antilopen angefressen wurden, sind die Manuskripte
eigentlich gut erhalten. Obschon natürlich seine Abfall-Papierfetzen
häufig zerknittert oder vergilbt oder sonstwie beschädigt sind. Ich bin
daher sehr verwundert, dass überhaupt so viel erhalten ist.
Ich halte es zudem tagtäglich für möglich, dass weiterhin Papiere von
Schweitzer auftauchen. Erstens Vortragsmanuskripte - nach meinen
Informationen ist es absolut möglich, dass in unbekannten Bibliotheken
von ehemaligen Schweitzer-Freunden noch solche Vortragsmanuskripte
vorhanden sind. Er hat diese nämlich oft verschenkt. Beispielsweise
jenes von seinem Nekrolog auf den von ihm stilistisch verehrten
Friedrich Nietzsche. Eine andere Möglichkeit ist, dass Briefe auftauchen
- das kommt immer wieder vor, und das Archiv Günsbach sammelt Briefe.
Eine dritte Kategorie sind Manuskriptbündel, die auch wieder auftauchen.
An Orten, wo Albert Schweitzer lebte oder seine Familie Materialie
hinzügelten und dann irgend etwas liegen geblieben ist.
Im jetzigen Zeitpunkt sind fast alle Originalmanuskripte in der
Zentralbibliothek Zürich archiviert. Währenddem alle Abschriften,
Kopien, Briefe vor allem, und Bücher im Archiv von Günsbach sind.
Jürg-Peter Lienhard: Im Vorwort wird erwähnt, dass alle orthographischen
Fehler Schweitzers im gedruckten Nachlass ausgemerzt worden sind. Stand
er mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuss?
Pfr. Johann Zürcher: Also, Kommatas hat er für unsere Begriffe sehr
zufällig gesetzt. Etwa so, wie er es in seinen französischen Texten
machte. Ich muss sagen, dass er in den Manuskripten die Kommaregeln
überhaupt nicht beachtet hat. Hingegen in seinen Editionen wurde die
Rechtschreibung ausserordentlich streng und konsequent eingehalten -
vielleicht hatte er Helfer, vielleicht machte es sein Verleger. Sonst
kommen Flüchtigkeitsfehler - dann und wann - mal vor. Auch haben wir
altertümliche Schreibweisen, wie etwa «Complicationen», den heutigen
angepasst.
Jürg-Peter Lienhard: Neben den Äusserlichkeiten dieser Manuskripte,
interessieren doch aber vor allem die Inhalte. Was hat Albert Schweitzer
der Menschheit heute, im Jahre 1995, oder im Jahre 2000, wenn alle zehn
Bände erschienen sind, noch zu sagen?
Pfr. Johann Zürcher: Albert Schweitzer ist schon eine sehr faszinierende
Persönlichkeit, und man kann ihn fast mit Goethe vergleichen. Er ist
irgendwie universal. Er hat sich aber bei aller Universalität sehr
geschickt auf ein Zentrum konzentriert. Und durch diese Konzentration
ist dann eben das, was er machte, bedeutend geworden. Er hatte eine
Begabung, auf jedem Gebiet, auf dem er arbeitete, die neuralgischen
Punkte zu sehen und daran zu arbeiten - auf allen Gebieten. Seine
Universalität ist vielleicht in der heutigen Wissenschaft nicht mehr so
möglich, weil dies uferlos ist. Er hat in einem Zeitpunkt zu arbeiten
begonnen, als die Wissenschaften noch irgendwie überblickbar waren. Aber
er hat immer an der Erweiterung seines eigenen Wissens gearbeitet.
Er sagte einmal, dass er das Medizinstudium ergriff, das er zuerst nicht
beabsichtigte, aber biographisch nötig wurde, um sein Ziel zu erreichen,
sei für sein Denken unendlich wichtig gewesen. Es bedeutete für seine
Philosophie und Theologie eine unerhörte Erweiterung, dass er auch noch
naturwissenschaftliche Kenntnisse hatte. Dies habe ihm wertvoll
geholfen, nicht den Boden zu verlieren. Einer seiner Grundgedanken ist
schon in seinen bereits publizierten Büchern nachzulesen. Er beruht auf
der Feststellung der unerhörten Diskrepanz, dass in den letzten 200
Jahren das Wissen in der Technik unendlich zugenommen hat - bis zur
Atombombe -, und dass nun eigentlich im selben Ausmass auch die
Verantwortlichkeit entsprechend wachsen müsste. Der Mensch müsste also
in seiner Vernunft, in der Anwendung seiner Erkenntnisse ebenfalls fast
übermenschlich verantwortlich handeln - das ist bekanntlich leider nicht
der Fall... Diese Diskrepanz beschäftigte ihn.
Er suchte deswegen in die ganze Diskussion der heutigen Menschheit Ethik
hineinzubringen. Er war sich bewusst, die Notwendigkeit einer Ethik
darzustellen, ist nicht schwer, das begreift jeder, dass eine Ethik
nötig ist. Hingegen wusste er, dass es unendlich schwer ist, eine Ethik
wirklich so zu begründen, dass sie zwingt. Daran arbeitete er , aber es
gelang ihm nicht, Ethik philosophisch endgültig aus der Natur
abzuleiten. Natürlich weiss man, dass man das nicht kann, aber er hat
sich sehr intensiv darum bemüht. Und dies Bemühen ist heute sehr
aktuell! Übrigens auch seine Bemühungen um die Entwicklungshilfe. Er hat
ja sein ganzes Werk verstanden als Sühne gegenüber allen
Drittweltländern. Seit Jahrhunderten hat Europa, und auch Amerika,
Raubbau betrieben an den Völkern, an den Ländern, an den Ressourcen.
Diese Schuld, die sich der Westen diesen Ländern gegenüber aufgeladen
hat, seit Jahrhunderten, müsste man sühnen, korrigieren. Das war sein
Bemühen.
Er wusste, dass er das persönlich nicht machen konnte, aber er konnte
ein Zeichen setzen. Er hat es - in aller Bescheidenheit - so verstanden.
Jürg-Peter Lienhard: Mit welchem Gefühl begegnen Sie dem Abschluss der
grössten Arbeit?
Pfr. Johann Zürcher: Jetzt allerdings ist doch ein gewisses Bewusstsein
über den Abschluss eingetreten. Man hat jetzt die Übersicht über den
Nachlass, man weiss ganz genau, was man drucken kann und was man nicht
drucken muss. Z.B. die Anhangsfrage. Aber selbst wenn man hätte
feststellen müssen, dass nichts Druckfertiges vorhanden ist, wäre es
gleichwohl interessant gewesen. Denn auch eine negative Antwort ist ein
Forschungsauftrag!
Jetzt allerdings ist doch ein gewisses Bewusstsein über den Abschluss
eingetreten. Man hat jetzt die Übersicht über den Nachlass, man weiss
ganz genau, was man drucken kann und was man nicht drucken muss. Z.B.
die Anhangsfrage. Aber selbst wenn man hätte feststellen müssen, dass
nichts Druckfertiges vorhanden ist, wäre es gleichwohl interessant
gewesen. Denn auch eine negative Antwort ist ein Forschungsauftrag.
Das Interview mit Johann Zürcher führte Jürg-Peter
Lienhard
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Hauptartikel: Auf der Suche nach einer «Ethik für alles Lebende»
Interview mit dem Philosophen Stefan Brotbeck
Lexikographie
Die Werke aus dem Nachlass Albert Schweitzers werden vom Verlag C.H.
Beck, München, verlegt.
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