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16.03.1995 - Philosophie

Nachlass von Albert Schweitzer

«Schweitzer war einer der letzten Universalgenies»

Interview mit seinem Biographen Pfr. Johann Zürcher

Von Jürg-Peter Lienhard

Pfarrer Johann Zürcher (69) aus Worb bei Bern hat fast 25 Jahre seines Lebens dafür eingesetzt, um Albert Schweitzers Nachlass zu studieren, zu sichten, zu ordnen und publizistisch aufzuarbeiten. Jürg-Peter Lienhard erkundete in seinem Gespräch mit dem Biographen Motiv und Werdegang des Projektes.

Pfarrer Johann Zürcher bearbeitet den schriftlichen Nachlass des elsässischen Friedensnobelpreisträgers und Universalgelehrten Albert Schweitzer.
Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2003

 

Jürg-Peter Lienhard: Welcher Beweggrund steckt dahinter?

 

Pfr. Johann Zürcher: Ich begreife diese Frage. Das muss doch etwas Gesponnenes sein, sich für so etwas zu spezialisieren. Andererseits liegt es genau in meiner Studienrichtung. Schweitzer hat mich interessiert, so dass ich das eigentlich gern machte. Ich wollte wissen, was hat er denn sonst noch geschrieben, wie hat er seine Werke weitergeführt, und was waren allenfalls die Grundlagen, die man noch gar nicht kennt. Also an sich schon eine interessante Fragestellung. Und weiter war die Arbeit dadurch nie langweilig. Die Spannung hielt auch nach Hunderten von Seiten an: Wie fährt er jetzt weiter - bricht er ab oder spinnt er den Faden weiter. Aber dann ist auch sein Stil spannend, und es kamen immer wieder Bemerkungen, die einem herausforderten. Es wäre einem anderen aber sicher auch so ergangen.

 

Jürg-Peter Lienhard: Wie sind Sie auf Schweitzer gestossen?

 

Pfr. Johann Zürcher: Schweitzer hat für mich schon früh im Gymnasium in Burgdorf und dann im Studium bereits persönlich eine grosse Rolle gespielt. Ich habe zuerst Musik studiert, Klavier und Orgel. Ich bin über die Musik auf Schweitzer aufmerksam geworden. Dann erst auf Lambarene, durch Zeitschriften und so. Schliesslich auf seine Theologie und erst zum Schluss im späteren Studium auf seine Philosophie.

 

Jürg-Peter Lienhard: Wer gab den Ausschlag?

 

Pfr. Johann Zürcher: Prof. Neuenschwander war Schüler von Prof. Werner, der Schweitzers Werk weiterführte, weil Schweitzer keine Zeit hatte, die ganze Dogmengeschichte von Paulus bis zur Neuzeit fertig zumachen. Aber Schweitzer hat dann gleichwohl ein Pendant dazu, «Reich Gottes», geschrieben. Aus einem ganz speziellen Grund allerdings. Und der ist Gegenstand eines Bandes, den wir herausgeben. Neuenschwander interessierte sich um den Nachlass, von dem man aber nicht viel wusste. Er hat mich dann einfach gefragt, ob ich ihm helfen würde. Ich sagte zu, wusste aber nicht, was auf mich zukam: Oi, oi, oi, was da rauskam, als ich das erste Mal nach Günsbach fuhr! So gab ich das Pfarramt auf und wurde Neuenschwanders Assistent.

 

Jürg-Peter Lienhard: Kannten Sie Schweitzer persönlich?

 

Pfr. Johann Zürcher: Leider bin ich ihm nie persönlich begegnet, obwohl ich dazu Gelegenheit gehabt hätte. Es gibt grössere Kenner Schweitzers als ich; ich weiss auch nicht alles.

 

Jürg-Peter Lienhard: Was ist das Typische an einem Albert-Schweitzer-Schriftstück?

 

Pfr. Johann Zürcher: Manuskripte Schweitzers erkennt man sehr rasch - vor allem am Format. Er hat für seine Manuskripte meistens Folioformat gebraucht. Was nicht heisst, dass er nicht auch andere Papiere gebraucht hat. Für Skizzen hat er in Lambarene, weil ja nicht gleich um die Ecke eine Papeterie zu finden war, er also sehr sparsam mit Papier umgehen musste, unglaubliche Sorten von Altpapier-Fetzen verwendet: Rückseiten von Couverts, auf den Umschlägen des «Nebelspalters» und anderer Zeitschriften, die er erhielt. Normale Arbeits-Manuskripte haben fast immer Randnotizen. Der grosse Teil der Randnotizen sind Vorbemerkungen, Vorfassungen, die der nachträglichen definitiven Fassung vorausgingen, wofür er den grossen Teil des Papiers frei liess.

Aber sehr oft sind diese Randnotizen nachträgliche Bemerkungen, die manchmal sehr persönlich sind. Allerdings sind die interessantesten Bemerkungen zur Literatur unserer Zeit eigentlich nicht in diesen Manuskripten, sondern in Büchern, die er gelesen hat. Darum ist die Bibliothek an seinem Geburts- und Heimatort im elsässischen Günsbach sehr wichtig. Dort hat er wesentliche Werke mit Unterstreichungen und sehr persönlichen Bemerkungen, manchmal in eigentlichen Wutausbrüchen, versehen. Das ist ein Gebiet für Sonderstudien.

 

Jürg-Peter Lienhard: Kann man die Schrift Albert Schweitzers eigentlich gut lesen?

 

Pfr. Johann Zürcher: Durchschnittlich ja. Die Manuskripte, woran er wirklich arbeitete, sind sehr gut lesbar. Was schwierig zu lesen ist, das sind Skizzen, Entwürfe oder Literatur-Zusammenfassungen. Aber vor allem Entwürfe, die er in der damals noch holprigeren Eisenbahn verfasste oder in einer anderen schwierigen örtlichen Situation, wenn er rasch etwas notierte. Manchmal nur mit Bleistift - dann ist er sehr schwierig zu lesen. Das kann man auf Kopien fast nicht lesen.

 

Alles, worauf der «Urwalddoktor» seine Gedanken und Entwürfe notieren konnte, diente ihm als Manuskript: Briefumschläge, Kalenderblätter, Medikamentenpackungen - schliesslich gab es im Urwald ja nicht gleich um die Ecke eine Papeterie.
Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2003

 

Jürg-Peter Lienhard: Warum hat Albert Schweitzer nie eine Schreibmaschine gebraucht - die hat es ja gegeben?

 

Pfr. Johann Zürcher: Dazu habe ich einmal eine Notiz von ihm selber gelesen: Die Schreibmaschine mochte er nicht leiden. Wenn er schrieb, wollte er nicht durch das Klappern der Maschine in der Konzentration gestört werden. Es gab damals ja noch nicht so moderne Schreibmaschinen, die kaum Lärm machen. Eine moderne Schreibmaschine hätte er heute wohl akzeptiert.

 

Jürg-Peter Lienhard: Der Computer wäre doch für ihn heute ideal gewesen, denn er hat seine Manuskripte ja vielfach mehrmals überarbeitet. Es gibt ja auch mehrere Fassungen von gewissen Aufsätzen.

 

Pfr. Johann Zürcher: Das ist zutreffend. Von vielen Werken gibt es verschiedene Fassungen. Dafür gibt es verschiedene Gründe zu erwähnen. Erstens hat er in Europa vielleicht eine Notiz geschrieben. In Lambarene fuhr er dann weiter, hat aber das andere betreffende Manuskript oder die betreffenden Unterlagen nicht dabei. Dann fängt er einfach nochmals von vorne an und verfasst neu. Häufig sind es rein arbeitstechnische Gründe, weshalb er stets wieder neu ansetzte.

Bei der Kulturphilosophie III kommt noch ein spezieller Grund dazu, warum er so viele Fassungen gemacht hat: Er versuchte darin ein Problem zu lösen, das ihm nie richtig gelang. So hat er dann immer wieder von vorne angefangen.

 

Jürg-Peter Lienhard: Stichwort Lambarene. Das ist ja nicht ein Idealaufenthalt gewesen für die wertvollen Manuskripte. Man hat sie ja dann nach Europa zurückgeholt, aber gibt es nicht noch Spuren von Lambarene auf den Papieren?

 

Pfr. Johann Zürcher: Ich bin eigentlich erstaunt, dass alle Manuskripte von dort erhalten geblieben sind. Mit Ausnahme etwa von jenen Manuskripten, die von Antilopen angefressen wurden, sind die Manuskripte eigentlich gut erhalten. Obschon natürlich seine Abfall-Papierfetzen häufig zerknittert oder vergilbt oder sonstwie beschädigt sind. Ich bin daher sehr verwundert, dass überhaupt so viel erhalten ist.

Ich halte es zudem tagtäglich für möglich, dass weiterhin Papiere von Schweitzer auftauchen. Erstens Vortragsmanuskripte - nach meinen Informationen ist es absolut möglich, dass in unbekannten Bibliotheken von ehemaligen Schweitzer-Freunden noch solche Vortragsmanuskripte vorhanden sind. Er hat diese nämlich oft verschenkt. Beispielsweise jenes von seinem Nekrolog auf den von ihm stilistisch verehrten Friedrich Nietzsche. Eine andere Möglichkeit ist, dass Briefe auftauchen - das kommt immer wieder vor, und das Archiv Günsbach sammelt Briefe. Eine dritte Kategorie sind Manuskriptbündel, die auch wieder auftauchen. An Orten, wo Albert Schweitzer lebte oder seine Familie Materialie
hinzügelten und dann irgend etwas liegen geblieben ist.

Im jetzigen Zeitpunkt sind fast alle Originalmanuskripte in der Zentralbibliothek Zürich archiviert. Währenddem alle Abschriften, Kopien, Briefe vor allem, und Bücher im Archiv von Günsbach sind.

 

Jürg-Peter Lienhard: Im Vorwort wird erwähnt, dass alle orthographischen Fehler Schweitzers im gedruckten Nachlass ausgemerzt worden sind. Stand er mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuss?

 

Pfr. Johann Zürcher: Also, Kommatas hat er für unsere Begriffe sehr zufällig gesetzt. Etwa so, wie er es in seinen französischen Texten machte. Ich muss sagen, dass er in den Manuskripten die Kommaregeln überhaupt nicht beachtet hat. Hingegen in seinen Editionen wurde die Rechtschreibung ausserordentlich streng und konsequent eingehalten - vielleicht hatte er Helfer, vielleicht machte es sein Verleger. Sonst kommen Flüchtigkeitsfehler - dann und wann - mal vor. Auch haben wir altertümliche Schreibweisen, wie etwa «Complicationen», den heutigen angepasst.

 

Jürg-Peter Lienhard: Neben den Äusserlichkeiten dieser Manuskripte, interessieren doch aber vor allem die Inhalte. Was hat Albert Schweitzer der Menschheit heute, im Jahre 1995, oder im Jahre 2000, wenn alle zehn Bände erschienen sind, noch zu sagen?

 

Pfr. Johann Zürcher: Albert Schweitzer ist schon eine sehr faszinierende Persönlichkeit, und man kann ihn fast mit Goethe vergleichen. Er ist irgendwie universal. Er hat sich aber bei aller Universalität sehr geschickt auf ein Zentrum konzentriert. Und durch diese Konzentration ist dann eben das, was er machte, bedeutend geworden. Er hatte eine Begabung, auf jedem Gebiet, auf dem er arbeitete, die neuralgischen Punkte zu sehen und daran zu arbeiten - auf allen Gebieten. Seine Universalität ist vielleicht in der heutigen Wissenschaft nicht mehr so möglich, weil dies uferlos ist. Er hat in einem Zeitpunkt zu arbeiten begonnen, als die Wissenschaften noch irgendwie überblickbar waren. Aber er hat immer an der Erweiterung seines eigenen Wissens gearbeitet.

Er sagte einmal, dass er das Medizinstudium ergriff, das er zuerst nicht beabsichtigte, aber biographisch nötig wurde, um sein Ziel zu erreichen, sei für sein Denken unendlich wichtig gewesen. Es bedeutete für seine Philosophie und Theologie eine unerhörte Erweiterung, dass er auch noch naturwissenschaftliche Kenntnisse hatte. Dies habe ihm wertvoll geholfen, nicht den Boden zu verlieren. Einer seiner Grundgedanken ist schon in seinen bereits publizierten Büchern nachzulesen. Er beruht auf der Feststellung der unerhörten Diskrepanz, dass in den letzten 200 Jahren das Wissen in der Technik unendlich zugenommen hat - bis zur Atombombe -, und dass nun eigentlich im selben Ausmass auch die Verantwortlichkeit entsprechend wachsen müsste. Der Mensch müsste also in seiner Vernunft, in der Anwendung seiner Erkenntnisse ebenfalls fast übermenschlich verantwortlich handeln - das ist bekanntlich leider nicht der Fall... Diese Diskrepanz beschäftigte ihn.

Er suchte deswegen in die ganze Diskussion der heutigen Menschheit Ethik hineinzubringen. Er war sich bewusst, die Notwendigkeit einer Ethik darzustellen, ist nicht schwer, das begreift jeder, dass eine Ethik nötig ist. Hingegen wusste er, dass es unendlich schwer ist, eine Ethik wirklich so zu begründen, dass sie zwingt. Daran arbeitete er , aber es gelang ihm nicht, Ethik philosophisch endgültig aus der Natur abzuleiten. Natürlich weiss man, dass man das nicht kann, aber er hat sich sehr intensiv darum bemüht. Und dies Bemühen ist heute sehr aktuell! Übrigens auch seine Bemühungen um die Entwicklungshilfe. Er hat ja sein ganzes Werk verstanden als Sühne gegenüber allen Drittweltländern. Seit Jahrhunderten hat Europa, und auch Amerika, Raubbau betrieben an den Völkern, an den Ländern, an den Ressourcen. Diese Schuld, die sich der Westen diesen Ländern gegenüber aufgeladen hat, seit Jahrhunderten, müsste man sühnen, korrigieren. Das war sein Bemühen.

Er wusste, dass er das persönlich nicht machen konnte, aber er konnte ein Zeichen setzen. Er hat es - in aller Bescheidenheit - so verstanden.

 

Jürg-Peter Lienhard: Mit welchem Gefühl begegnen Sie dem Abschluss der grössten Arbeit?

 

Pfr. Johann Zürcher: Jetzt allerdings ist doch ein gewisses Bewusstsein über den Abschluss eingetreten. Man hat jetzt die Übersicht über den Nachlass, man weiss ganz genau, was man drucken kann und was man nicht drucken muss. Z.B. die Anhangsfrage. Aber selbst wenn man hätte feststellen müssen, dass nichts Druckfertiges vorhanden ist, wäre es gleichwohl interessant gewesen. Denn auch eine negative Antwort ist ein Forschungsauftrag!

Jetzt allerdings ist doch ein gewisses Bewusstsein über den Abschluss eingetreten. Man hat jetzt die Übersicht über den Nachlass, man weiss ganz genau, was man drucken kann und was man nicht drucken muss. Z.B. die Anhangsfrage. Aber selbst wenn man hätte feststellen müssen, dass nichts Druckfertiges vorhanden ist, wäre es gleichwohl interessant gewesen. Denn auch eine negative Antwort ist ein Forschungsauftrag.

 

Das Interview mit Johann Zürcher führte Jürg-Peter Lienhard

 

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Die Werke aus dem Nachlass Albert Schweitzers werden vom Verlag C.H. Beck, München, verlegt.

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